Der Billigfliegerboom hat ein neues Kundensegment für die Tourismusbranche geschaffen: Man jettet zum Trinkurlaub an die Theken Europas. Die komatöse Klientel sorgt für Umsätze - aber auch Ärger
Es ist noch taghell auf Hamburgs Rotlichtmeile Große Freiheit, da hat die Reisegruppe schon ihre ersten Ausfälle zu verzeichnen. "Einer schläft auf dem Zimmer, ein anderer ist verschollen", sagt Jonathan Hill und hält mit einem Ausfallschritt mühsam das Gleichgewicht. Der Engländer, 29 Jahre alt, ist werktags Direktor eines mittelständischen Autozulieferers südlich von Birmingham. Doch jetzt steckt er in einem hautengen Frauenfummel und muss auf Geheiß seiner verbliebenen neun Begleiter ein weiteres Astra-Bier auf Ex trinken.
Denn Hill feiert seinen Junggesellenabschied, und der ist für Briten mittlerweile fast standardmäßig verbunden mit einer Städtereise ins europäische Ausland. Auf dem Programm steht drei Tage Trinken, unterbrochen höchstens durch symbolische Pausen.
"Mit jeder neuen Billigflugverbindung haben wir in den vergangenen Jahren auch eine deutliche Zunahme von Partytouristen beobachtet", sagt Ine Bösche von der Hamburg Tourismus GmbH. "Das sind junge Leute aus dem Ausland, die es vor allem in die Szeneviertel St. Pauli und St. Georg zieht. Nicht gerade unsere Hauptzielgruppe ..."
Eine hanseatisch-vornehme Formulierung für ein Phänomen, das mittlerweile vielen europäischen Großstädten für Freude auf der einen und Entsetzen auf der anderen Seite sorgt. Seit billige Fluglinien den Kontinent zusammenrücken lassen, wird sich der Sauftourismus zu einer eigenen Branche. Vor allem Briten sind es, die zu Junggesellenabschieden ("Stag Weekends") und organisierten Zechtouren ("Pub Crawls") hordenweise Europas Metropolen heimsuchen. Für Biergärten, Bars und Bordelle sind sie wegen ihrer Umsatzintensität gefragt. Zugleich befürchten manche Länder eine Ballermannisierung ihrer Kulturreiseziele.
In kultureller Sicht ist auch das Programm der Reisegruppe Hill überschaubar. Freitag: Kneipentour auf der Reeperbahn, von morgens um neun, bis keiner mehr steht. Samstagmittag: Ballern auf einer Schießanlage, danach ab auf die rote Meile. Sonntag: Kartfahren, Abschiedsdrink, Heimflug. "Für mich und noch einen aus der Gruppe ist das jetzt schon das dritte Stag Weekend in Folge", stöhnt Neil Stevens, 28, im nüchternen Zustand Geschäftsführer eines Herstellers von Baumaterial in Warwickshire. "Erst Newcastle, dann Zypern, jetzt Hamburg. Man kommt ganz schön rum. Kein Wunder, wenn der Flug nur einen Penny kostet." Ihr Erlebniswochenende haben die zwölf Freunde in England als Paket für umgerechnet gut 300 Euro pauschal gebucht, inklusive Hotel in strategisch günstiger Lage auf dem Kiez.
Auf der Insel gibt es mittlerweile ein halbes Dutzend Veranstalter wie Brilliant Weekends, die auf Saufwochenenden spezialisiert sind und für die trinkfeste Klientel Pakete aus testosteronlastigen Aktivitäten wie Paintballschießen oder Rennfahrten und organisierten Kneipentouren schnüren.
Aber auch in anderen Ländern nehmen etablierte Reiseveranstalter zunehmend Partywochenenden ins Programm. So starteten am Freitag zum Beispiel in Berlin und München Air-Berlin-Jets mit mutmaßlich trinkfreudiger Klientel an Bord Richtung Balearen. In den Fliegern saßen die "Partypeople", die der Last-Minute-Anbieter L'TUR mit seinem neu ins Angebot aufgenommenen "Crazy Trip" gelockt hatte, einem organisierten Partywochenende inklusive Gratisdrinks und Clubeintritt.
Derart eindeutig motivierte Kundschaft stößt in den Zielgebieten längst nicht mehr auf ungeteilte Gegenliebe. Nachdem sich Mallorca schon vor Jahren vom Ballermann-Tourismus zu distanzieren begann, wehren sich immer mehr Kommunen gegen das Partyvolk. Die Gaudí-Stadt Barcelona sieht sich mittlerweile genötigt, Alkoholkonsum auf offener Straße mit Bußgeldern von bis zu 1500 Euro zu ahnden. Der Chef des bulgarischen Hotel- und Gaststättenverbandes Blagoj Ragin befürchtet ein "Mallorca-Syndrom" an der Schwarzmeerküste, wo sich der Sauftourismus ebenfalls epidemisch ausbreitet und dazu führte, dass allein im vergangenen Jahr 1800 Kneipen und Billighotels eröffneten.
Schlimmer scheint die Lage noch in Prag, wo die zwei Millionen Billigfliegertouristen pro Jahr inzwischen die größte Besuchergruppe bilden und Veranstalter wie "Prague Piss-Up" mit der Kombinationen von Schwarzbier und Rotlicht Millionen umsetzen. Und in Riga schlug eine Stadträtin unlängst Alarm. Durch ihrer boomende Schnaps- und Sexindustrie drohe die lettische Hauptstadt zum "Bangkok Europas" zu werden.
Gemessen daran ist die Lage in den deutschen Metropolen fast beschaulich. Hier kümmern sich um die Betreuung der schnell orientierungslosen Gäste Spezialagenturen wie Acanthus Tours, die früher vor allem mit Messereisen und Firmen-Incentives sein Geld verdiente. "Durch die Billigflieger sind Junggesellenabschiede für uns inzwischen zu einem wichtigen Umsatzfaktor geworden", sagt Anja Kahle, Sprecherin des Berliner Reiseveranstalters. "90 Prozent der Gruppen kommen mit Carriern wie Ryanair, Easyjet oder Germanwings ins Land."
Und was sie an Reisekosten sparen, bringen die Trinktouristen am Tresen durch, wie früher die Seeleute ihre Heuer. "Für die Gastwirte sind die Kiezbesucher durchaus eine attraktive Klientel. Der durchschnittliche Konsum liegt immerhin bei rund 50 Euro pro Nacht", sagt Bösche von Hamburg Tourismus, die negative Begleiterscheinungen denn auch nicht in zu grellem Licht erscheinen lassen will.
Welche Ausmaße das Phänomen Partytourismus in Deutschland genau angenommen hat, wird zahlenmäßig nicht erfasst. Der Trend lasse sich allerdings an den Umsätzen der Übernachtungsbranche deutlich festmachen, sagt Stefanie Heckel vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband: "Bei Zimmern im Preissegment unter 50 Euro verzeichnen wir überproportional steigende Auslastungszahlen und Erträge." Touristen zwischen 18 und 27 Jahren seien für die Branche inzwischen der größte Wachstumsmarkt. "Einige von ihnen kommen jetzt vielleicht nur zum Feiern her - aber sie werden heiraten und beruflich aufsteigen. Das sind unsere Gäste von morgen."
Die Worte klingen beinahe beschwichtigend und gehen wohl auch an die Adresse der Bewohner mancher Berliner Stadtteile, in denen die Sauftouristen inzwischen als regelrechte Plage empfunden werden. Mit 150 Millionen Besuchern im Jahr ist die Stadt mittlerweile Europas drittwichtigstes Touristenziel nach London und Paris. Und 48 Prozent der ausländischen Gäste sind unter 35 Jahre alt, und manche von ihnen etwas zu trinkfreudig für den Geschmack der heimischen Bevölkerung.
"Wenn bei einem Pub Crawl eine Gruppe von 100 angetrunkenen Touristen durch ein Szeneviertel schwankt, fällt das natürlich auf und stößt nicht nur auf Gegenliebe", sagt Natascha Kompatzki von der Berliner Tourismus Marketing-Gesellschaft. Die organisierten Kriechtouren durch das Nachtleben empfindet sie als störende Randerscheinung des Geschäfts mit den jungen Gästen: "Das ist die Schattenseite des Tourismus."
Von Steffen Fründt www.welt.de
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