Agrotouristen brauchen weder Strand noch Party. Sie wohnen auf dem Dorf unter Einheimischen und genießen die Natur. Ein Selbstversuch auf Zypern

Ich mache Agrotourismus auf Zypern. Warum? Weil ich dieses Dasein in Shorts und Badeschlappen an irgendeiner Küste nicht mehr mag, seine Austauschbarkeit, seine existenzielle Belanglosigkeit. Ich will kein Second Life, ich will biblische Szenen, Dörfer, in deren Kafeneions ich der einzige Fremde bin. Ich will Erde unter den Füßen und keinen Barhocker unter dem Hintern, und das alles will ich hardcore: weit weg von der Party, keine blonden Frauen am Strand und keine farbigen Drinks, sondern zerfurchte Einheimische und zypriotischen Kaffee.

Agrotourismus ist Ökotourismus mit ein bisschen Luxus. In den besten Fällen sieht das so aus: Man lebt in einem kleinen Dorf in einem netten Häuschen, liegt im Pool, hört Schafe blöken, Vögel pfeifen oder fröhliche Bauern ein Lied singen. Mein erstes kleines Dorf heißt Kalavassos, liegt im Südosten der Insel, 40 Autominuten vom Flughafen Larnaca entfernt.

Fing auch alles ganz gut an. Man merkte gleich, dass bis 1960 die Engländer hier waren. Kein südländisches Laisser-faire, der Taxifahrer wartete tatsächlich am Flughafen, am Rand der Autobahn tauchten alle 100 Meter Schilder auf, die einen darauf hinweisen, dass Fußgänger hier verboten sind, man nur 100 fahren, keinen Abfall auf die Straße werfen darf und nicht im Auto rauchen soll. Dazwischen Werbeplakate: Kauf ein Haus, kauf einen neuen Wagen, ein neues Sofa. Zypern, dachte ich, hat seinen Krieg hinter sich, die finsteren Jahre zwischen 1963 und 1974, als die griechischen Zyprioten die Enosis wollten, den Anschluss an Griechenland, und die türkischen Zyprioten die Taksim, die Teilung der Insel. Ergebnis: 6000 Tote, 200000 Vertriebene, 1619 Menschen vermisst, die Insel geteilt.

Das Appartement in Kalavassos liegt fast am Ortsausgang, am Ende der größten Straße des Dorfes, die aber immer noch so klein und schmal ist, dass Autos kaum aneinander vorbeikommen. Küche, Wohn-Schlafzimmer, Bad, dahinter, leicht erhöht, noch zwei weitere Ferienwohnungen. Das Gepäck schnell in eine Ecke gestellt, ein Spaziergang auf den Dorfplatz, wo alles dunkel war bis auf das Kafeneion, in dem der Wirt mit ein paar Freunden zwei Flaschen J&B-Whisky alle machte. »Klisto ine«, sagte er, geschlossen sei es, »mono filimu«, nur meine Freunde, ich tat so, als ob ich nichts verstünde, und sagte »Birra, please« . Er drückte mir eine Flasche in die Hand und wollte kein Geld. Schon liebte ich dieses Dorf ein wenig. Es war warm, sternenklar, nicht einmal Hunde bellten.

Das war vor zwei Tagen. Jetzt ist alles anders. Ich habe das unterschätzt, die Abgeschiedenheit, das Alleinsein. Die vegetarische Kleinfamilie aus München ist nicht sehr ergiebig, Richard und Onno, die beiden homosexuellen Rentner, sind weg, und ich habe niemanden mehr, mit dem ich reden kann. Für die Kalavassoser bin ich der Mann mit dem Fahrrad, man kennt mich, lässt mich in Ruhe. Das ist hart, aber natürlich. Die Einheimischen sprechen auch nicht viel miteinander, man kennt sich ein Leben lang, sitzt da, spielt Karten. Zyprioten sind so.

Unter meinem Zitronenbaum vermisse ich jetzt Richards Raucherhusten. Die beiden Engländer hatten es raus, wie man hier lebt. Hockten den ganzen Tag auf der Terrasse, Onno in kurzen Hosen, Richard im Tanga, braun gebrannt wie die Insel im September, tranken Bier und rauchten Selbstgedrehte. Als ich in meinem Jogginghöschen auftauchte, klatschten sie, und als ich fix und fertig zurückkam, schüttelten sie die Köpfe. »Michael, warum tust du dir das an? Alles, was du hier machen musst, ist to go with the flow.«

Die Spatzen pfeifen, der Wind rauscht im Zitronenbaum, Sonne, Hügel, die Landschaft ein Gemälde. Was anfangen mit dem prächtigen Tag? Wieder joggen? Mountainbiken? Oder zum Friedhof spazieren und schauen, was von den türkischen Zyprioten übrig blieb, nachdem 1963 180 Muslime von 300 griechischen Zyprioten aus Kalavassos vertrieben worden waren. Auf das Minarett steigen? Oder im Nachbarsgarten ein paar Orangen vom Baum klauen und einen Saft pressen? Ich bedauere, dass ich nie Auto fahren gelernt habe. Mit einem Auto könnte ich herumfahren, wie das alle Agrotouristen hier tun, die jungen Familien oder die Rentner. Ich könnte uralte Heiligtümer angucken, ans Meer fahren oder mir doch einen Barhocker suchen. Plötzlich sehne ich mich nach Strand.

Doch der zypriotische Agrotourismus spielt sich rund 15 Kilometer hinter der Küste ab: 87 Häuser, 682 Betten in 37 Dörfern. »Agrotourismus ist eine unspektakuläre Nummer, gemessen am Ganzen«, hat Phoebe Katsouris gesagt, die Generaldirektorin der Tourismusorganisation. »Das Ganze«, das sind vor allem die Bettenburgen Agia Napa, Limassol und Paphos an der Südküste, 937 Hotels mit 96000 Betten, die jährlich 2,4 Millionen Touristen beherbergen und 1,8 Milliarden Euro auf die Insel bringen. Gut die Hälfte sind Engländer, aus Deutschland kommen im Jahr 150000 Besucher.

Ich kann mich nicht entscheiden. Irgendetwas zu tun, bloß weil man es nicht auf die Reihe kriegt, nichts zu tun, ist auch blöd. Ich starre innerlich immer stummer in den Frühling, und der Frühling starrt zurück. Fliegen nerven. Am frühen Nachmittag habe ich mich satt, finde mich uninspiriert und auch ein bisschen fett. Auf der Suche nach Gesprächen laufe ich durch Kalavassos, aber das Dorf hält Siesta, also wandere ich nach Tochni.

Von Michael Bahnerth | © DIE ZEIT, 12.04.2007 Nr. 16